P. Nikolai Wolper
Hamburg, 15.9.2007
Nacht
der Kirchen: „Den Himmel erden“ II:
Wie
Orthodoxe beten
„Ich
Bin der Weinstock,
ihr
seid die Reben.“ (Joh 15,5)
„Den Himmel erden“: Das können nicht wir tun aus eigener Kraft,
sondern wir können nur antworten auf die „Erdung“, die der Dreieine
Gott Selbst durch die frei gewollte Menschwerdung des Sohnes gewirkt
hat. Eine Antwort auf dieses Gnadenhandeln Gottes ist die Schreibung
und Verehrung von Ikonen als sinnlich konkretes Bekenntnis zur
Inkarnation. Eine andere Antwort ist das immer währende Gebet der
Kirche, in das wir als einzelne Getaufte mit unseren begrenzten
Kräften zeitweise einstimmen und uns so als leib-seelisch-geistig
verfasste Wesen zum offenen Himmel erheben.
1. Theologische Grundlage
Die theologische Grundlage des orthodoxen Gebetslebens sind die
Abschiedsreden Jesu, wie sie im Johannes-Evangelium berichtet
werden. Besonders das 15. Kapitel gibt uns die gar nicht genug
auszuschöpfenden Hinweise mit dem Bild vom Weinstock, dessen Winzer
der Vater sei und dessen Reben die Christus-Gläubigen bildeten.
„Wer in Mir bleibt und in wem Ich bleibe, der bringt reiche Frucht;
denn getrennt von Mir könnt ihr nichts vollbringen.“ (V.5)
Und das Bild vollendet sich im Lobpreis der Liebe: „Wie Mich
der Vater geliebt hat, so habe auch Ich euch geliebt. Bleibt in
Meiner Liebe! (...) Dies trage ich euch
auf: Liebet einander!“ (Joh 15,9.17) Und nachdem Er
seine Mission, die Schöpfung wieder mit Gott zu versöhnen, erfüllt
hatte, verabschiedete der Sohn Sich in Seiner in Raum und Zeit
begrenzten menschlichen Gestalt und versprach, den
„Tröster-Beistand“ zu senden, den „Geist der
Wahrheit, Der vom Vater ausgeht“ (Joh 15,27). Das
Pfingstfest, an dem dies Wirklichkeit wurde, ist der Geburtstag der
Kirche, und im Leben des Einzelnen ereignet sich das Pfingstgeschehen
im Mysterium der Myronsalbung, der „Firmung“, die die Verbindung mit
dem Tod und der Auferstehung des Herrn besiegelt. Der hl. Apostel
Paulus erinnert uns an die Bedeutung dieser Heils-Zusage: „Ihr
habt den Geist empfangen, Der euch zu Söhnen macht, den Geist, in Dem
wir rufen: ‚Abba, Vater’.“ (vgl. Röm 8,14-17)
Der ganze Sinn des christlichen Lebens ist die Vereinigung mit Gott,
und diese ist nicht möglich ohne die Vereinigung mit Christus, dem
Mensch gewordenen Gottessohn, in der Kirche. Diese
heilige Gemeinschaft der Sünder ist der Erfahrungsraum, in dem sich
unser alltägliches Leben mit Gott verwirklicht. Der innergöttliche
Dialog Jesu mit Seinem Vater bildet die Grundlage allen Betens, zu dem
wir überhaupt fähig und berufen sind, eingeladen zur liebenden
Teilhabe an der göttlichen Gemeinschaft.
Die Ikone der Hl. Dreieinigkeit, die den tiefen Sinn der
Gastfreundschaft Abrahams und Sarahs im
Hain Mamre offenbart (Gen 18), ist das Urbild
dieser Liebeseinheit, die Gott von aller Ewigkeit her schon IST.
(Westwand unserer Kirche) Und die Ikone der Gottesmutter Maria
– wie in unserer Apsis - verkörpert in ihrer
betenden Öffnung der Hände und des Herzens, ihres ganzen Seins, die
dankbare und vertrauensvolle Hingabe der Schöpfung an diesen Dreieinen
Gott. Nach der Lehre des Apostels Paulus ist die Kirche der Leib
Christi, in dem alle Getauften Glieder und Organe sind (1 Kor
12,12ff; Eph 4). Alles Gebet der Orthodoxen will diese Geste der
Verherrlichung des Dreieinen Gottes verwirklichen. Deshalb gehört wie
das täglich mindestens einmal gesprochene Glaubensbekenntnis
(das ausführliche von Nizäa und Konstantinopel von 381) auch der
Lobpreis der Gottesgebärerin zu jedem orthodoxen Gebet:
„Die du ehrwürdiger bist als die Cherubim und
unvergleichlich herrlicher als die Seraphim,
die du unversehrt Gott, das Wort, geboren hast,
wahrhaftige Gottesgebärerin,
dich preisen wir hoch!“
2. Die Praxis
Orthodoxes Gebet ist Anbetung und deshalb auf die Ikonen
als Fenster zur Ewigkeit hin ausgerichtet. Die Gemeinschaft der
Gläubigen ergibt sich aus dieser auch räumlich gleichgerichteten
Orientierung aller Betenden.
So ist das eigentliche Beten der von der langen Erfahrung und
Tradition der Kirche geformte Mitvollzug des öffentlichen und
feierlichen Gottesdienstes, den der Einzelne sich auch in seinem
privaten Leben in bescheidenerer Form aneignet und nach seinen Kräften
einübt und pflegt. Der Weinstock und der Leib Christi sind die
biblischen Bilder für die Wirklichkeit der Kirche als eines
Organismus, von dem wir uns nur mit dem Risiko von
Verkümmerung und Tod abtrennen können. Dieses Bewusstsein der über
räumliche und zeitliche Grenzen hinweg alle Orthodoxen verbindenden
Gebetsgemeinschaft hat eine überaus tröstliche und das Leben auch in
Krisen und Schwächen und hoffentlich auch im Sterben tragende Kraft.
Alle orthodoxen Gebete werden eingeleitet mit der Anrufung des
Hl. Geistes, in Dem allein die Gemeinschaft mit Gott überhaupt
nur möglich ist, und mit dem Lobpreis der Hl. Dreieinigkeit:
„Himmlischer König, Tröster, Geist der Wahrheit,
Der Du überall bist und alles erfüllst; Hort der Güter
und Spender Lebens:
Komm und wohne in uns, reinige uns von allem Makel und
rette, Gütiger unsere Seelen.“
„Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher,
erbarme Dich unser!“ (3x) (...)
„Ehre sei dem Vater und Sohn und dem Hl. Geist, jetzt und
allezeit und in alle Ewigkeit.“
Und diese Einleitung wird dann abgeschlossen mit dem Vaterunser,
in dem wir uns unserer Gottes-Kindschaft versichern.
Danach öffnet die Kirche den Psalter als den
Gebetsschatz des Gottesvolkes, den die Kirche sich aneignet aus dem
Glauben an Christus, Der alle Verheißungen des Alten Bundes vollendet
und erfüllt hat. Hier betet der Gottessohn Selbst zu Seinem Vater aus
der Fülle der menschlichen Erfahrungen von Freude, Dank, Trauer,
Klage, Fluch und Zuversicht heraus. Alle kirchlichen Gebete werden von
Psalmen, die den jeweiligen Anlässen entsprechen, geprägt. Wieder und
wieder werden die Gläubigen angehalten, auch im eigenen Gebet sich mit
dem Psalter vertraut zu machen. Zahlreiche Zitate einzelner Psalmverse
gliedern auch die sonstigen Gottesdienst-Vollzüge (z.B. die „Prokimen“
–Vorbereitungen zu den biblischen Lesungen – und die Einschübe in die
anschließenden Alleluja-Gesänge). Sie verweisen so wechselseitig auf
die organische Einheit der Hl. Schrift.
Ein wesentliches Formprinzip orthodoxen Betens sind die vielfachen
Wiederholungen, die westlichen Menschen vielleicht
befremdlich erscheinen mögen, weil sie ungeduldig werden und meinen,
Gott verstehe unser Anliegen doch auch beim einmaligen Vortrag, so
dass wir Zeit und Kräfte einsparen könnten. Aber Gebete sind eben
keine Wunschzettel wie an den Weihnachtsmann, sondern der Atem des
kirchlichen Lebens; und die rhythmische Gliederung von Lebensprozessen
ist für den Erhalt aller Organismen notwendig. Das haben alle Kulturen
der Welt schon immer gewusst, und die Orthodoxen haben diese Weisheit
pfleglich bewahrt. Das rhythmische Einschwingen in das kirchliche
Gebetsleben ist das Gegenteil von mechanischer Monotonie. Es bringt
Geist, Seele und Leib in Einklang und verhilft zu der konkreten, nicht
nur gedanklich beschworenen Erfahrung, dass der Mensch als ganzer
zum Heil berufen ist. Deshalb glauben Christen ja an die
Auferstehung des Leibes. Und so betet der Körper aktiv
mit durch unzählige Bekreuzigungen, Verbeugungen und bei manchen
Anlässen sogar völligen Niederwerfungen zur Erde. Auch die stehende
Gebetshaltung ist Ausdruck dieser aktiven Zuwendung zu Gott. Überdies
ist sie Zeichen der Würde des Menschen, der den göttlichen Personen
von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen darf, sinnlich vermittelt
durch die Ikonen, aus denen uns Christus und die Heiligen anschauen.
Auch das Darbringen von Weihrauch vor den Ikonen und
anderen heiligen Dingen (Altar, Evangelium; Taufwasser) und
ununterbrochen beim priesterlichen Totengebet drückt die verehrende
Erhebung der materiellen Schöpfung zum Ursprung allen Seins sinnfällig
aus: „Wie Weihrauch steige mein Gebet vor Dir auf...“ (Ps
140/141,2; feierlich gesungen und rezitiert in jeder Vesper mit
großer Beweihräucherung der ganzen Kirche und aller Anwesenden; der
Seher Johannes sieht die Gebete der Heiligen als Weihrauch zum Altar
des Lammes aufsteigen; Apk 5,8; 8,3f.).
Weil die Orthodoxen sich nicht isoliert mit Gott im stillen Kämmerlein
wahrnehmen, sondern als Glieder der kirchlichen Heilsgemeinschaft,
sind die Fürbitten für Lebende und Tote, die ihnen nahe
stehen, wichtige Elemente der Gebetspraxis. Ihre Namen werden nicht
nur in die persönlichen Gebete eingefügt, sondern auch auf eigens
dafür vorgesehene Zettel oder bei regelmäßigem Kirchenbesuch in dazu
gedruckte Büchlein geschrieben und dem Priester zum öffentlichen Gebet
anvertraut (für Kranke, Reisende, Gestorbene oder andere Menschen, an
deren Schicksal man Anteil nimmt). Wenn der Priester vor der
Göttlichen Liturgie die eucharistischen Gaben vorbereitet („Proskomidie“),
ordnet er um das große Brotstück, das als „Lamm“ später zum Leib
Christi konsekriert wird, kleine Brot-Partikel, die er aus den von den
Gläubigen erworbenen „Prosphoren“ schneidet, auf dem goldenen Teller
(Diskos) an zum Gedenken an Heilige – allen voran die Gottesmutter
Maria zu Seiner Rechten – und die von den Gläubigen genannten Lebenden
und Verstorbenen als Zeichen der Gemeinschaft der Kirche über Raum und
Zeit hinweg. Beim Großen Einzug überträgt er sie dann feierlich auf
den Altartisch.
Für viele Anliegen bestellen die Gläubigen beim Priester besondere
Gebets-Andachten (Moleben) und
Totengebete (Pannichiden), in denen die
vertrauten Texte und Melodien erklingen und die Namens-Zettel gelesen
werden. Auch der Beerdigungs-Gottesdienst ist keine tröstliche
„Trauerfeier“ für die „Hinterbliebenen“, sondern eine einzige große
Fürbitte für die Verstorbenen, denen wir in zahlreichen gesungenen und
rezitierten Gebeten unsere Stimme leihen und die wir vertrauensvoll
und in bleibender Gebets-Verbundenheit den Händen Gottes übergeben.
Ein weiterer ganz sinnlich-handfester Ausdruck der kirchlichen Einheit
der Betenden ist die orthodoxe Praxis, vor den Ikonen zahlreiche
Kerzen anzuzünden, wiederum verknüpft mit den
Heils-Anliegen für andere Menschen und zu Ehren der Heiligen. Für die
Verstorbenen gibt es dazu in jeder Kirche einen besonderen Platz, wo
vor dem Bild des Gekreuzigten die Opferkerzen aufgestellt werden und
auch der Priester die Totengebete („Pannichida“) darbringt.
Über dieses reiche kirchlich geformte, in den Büchern zugängliche
Gebetsleben hinaus ist jedem Orthodoxen die innige Pflege des ganz
persönlichen „Jesus-Gebetes“ ans Herz gelegt, das in
besonderer Weise, nochvertieft, wenn es mit dem Rhythmus der Aus- und
Einatmung verbunden wird, die Sehnsucht nach der Vereinigung durch
Christus mit dem Dreieinen Gott zu erfüllen vermag: fruchtbare Rebe
zu sein am Weinstock, dessen Winzer der Vater ist. Es hilft, in den
Wirren und Ablenkungen des Alltags uns jederzeit wieder „einzuloggen“
in das „Netzwerk“ zu unserer himmlischen Heimat und verwirklicht mit
einfachsten Worten unsere Geste der Hinwendung zum Arzt unserer Seelen
und Leiber in der Lobpreisung und in der vertraulichen Bitte:
„Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich
meiner (des Sünders)!“
Und nicht nur in der großen Fastenzeit, wenn es durch Verbeugungen und
Niederwerfungen auch körperlichen Ausdruck findet, verdichtet das
Bußgebet des hl. Ephräm des Syrers unsere demütige
Haltung des Gebets, das uns über die Grenzen unseres weltlichen
Daseins hinausträgt:
„Herr und Gebieter meines Lebens,
den Geist des Müßiggangs, des Kleinmuts der Herrschsucht und
unnützer Rede nimm von mir.
Gib hingegen mir, Deinem Diener, den Geist der Besonnenheit,
der Demut,
der Geduld und der Liebe.
Ja, mein Herr und mein König, lass mich sehen meine Fehler
und nicht richten meinen Bruder,
denn Du bist verherrlicht von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ Amen.
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