Nacht der Kirchen                „Mit himmlischen Klängen“ I               Hamburg, 20.9.2008          

 

              Irina Gerassimez: Der Gesang im orthodoxen Gottesdienst

 

Kirchenmusik ist in den orthodoxen Kirchen- mit Ausnahme der altorientalischen Kirchen -, rein vokal; das heißt, es gibt keine Orgel, kein Harmonium, kein Klavier oder andere begleitende Instrumente. Kirchenmusik ist gleich Kirchengesang.

Und dieser Gesang ist zentrales Geschehen, er ist in gewissem Sinne der Gottesdienst selbst. Kein gesprochenes Wort ist während der Stunden dauernden Gottesdienste zu hören, selbst die Lesungen werden singenderweise  vorgetragen. Von daher ist er „elementar und kein in den Gottesdienst importiertes Element“, so Johannes von Gardner, einer der bedeutendsten Forscher im Bereich der russischen Kirchenmusik.

„Der Gesang ist“ – so Gardner – „ein musikalisches Phänomen, welches aus der Liturgie herauswächst, mit der Liturgie verbunden, ja verschmolzen ist. Er ist keine Ausschmückung des Gottesdienstes, kein Pausenfüller und keine musikalische Begleitung des Liturgen, er ist untrennbar von der rituellen, liturgischen Handlung, mit den liturgischen Formen aus der Liturgie heraus entstanden.“ Soweit Gardner.

In meinen Worten würde ich sagen: der Gesang ist wie eine Energie, die den ganzen Gottesdienst durchfließt. Die Ausschmückung, wenn man dieses Wort überhaupt verwenden will, besteht höchstens darin, wie viele Sänger und Sängerinnen singen, ob es überhaupt einen vollständigen Chor gibt, und wie gut und kunstvoll dieser Chor singt.

In kleineren Gemeinden oder bei Gottesdiensten unter der Woche singen oft auch nur ein oder zwei Sänger oder Sängerinnen, manchmal muss sogar der Priester die eigentlich vom Chor zu singenden Teile alleine singen. Die Gemeinde singt bei großen Gottesdiensten, also am Sonntagmorgen und bei Festgottesdiensten, nur das „Glaubensbekenntnis“ und das „Vater unser“ mit dem Chor mit, ohne Noten und ohne Textvorlage. Das bedeutet, es gibt keine Gesangbücher; aber es gibt Textbücher für all die verschiedenen Gottesdienste.

Und einige Gemeindemitglieder verfolgen den Gottesdienst auch über die Textbücher und singen in den kleinen Gottesdiensten, wo es oft keinen Chor gibt, zum Beispiel den Bitt- und Dankandachten, den Taufen und Totengedenk-Gottesdiensten, einstimmig mit dem Priester mit.

Doch der durchschnittliche Gläubige betritt eine orthodoxe Kirche ohne Textbuch, kauft zu Beginn einige Kerzen und taucht dann in diesen Gottesdienst ein, indem er oder sie die verschiedenen Ikonen aufsucht, die Kerzen im Gebet davor entzündet und dann einen Platz irgendwo im Kirchenraum einnimmt, um dem Gottesdienst zu folgen. Aber nicht so, wie es man es vielleicht aus den Zusammenhängen in evangelischen oder katholischen Gottesdiensten kennt: Jetzt setzt man sich, nun wird gebetet, danach gesungen, jetzt wieder aufgestanden, zugehört, man setzt sich wieder usw.

Der orthodoxe Gottesdienst ist eher wie ein immerwährender Strom und der Gesang wie das fließende Wasser, und als Teilnehmende an diesem Gottesdienst taucht man in diesen Strom ein.

Hinter dieser ganz realen sinnlichen Erfahrung, dass ohne Pausen, ununterbrochen gesungen wird, entweder vom Chor, vom Psalmen-Leser oder der Leserin oder vom Priester, steht eine ganz eigentümliche Vorstellung: es gibt das Bild, dass in den himmlischen Welten eine immerwährende Liturgie gefeiert wird, in die wir für die Zeit des Gottesdienstes mit hinein genommen werden. (Der Cherubim-Gesang, ein Lied, das zur Übertragung der Abendmahls-Gaben gesungen wird, beschreibt genau dies.)

Und das bedeutet, ein Gottesdienst ist nicht einfach etwas, das gemacht wird, sondern etwas, das schon da ist, und mit dem wir uns für die Zeit des Gottesdienstes verbinden.

Von diesen Ansatz her ist auch der Gesang nicht etwas, was wir machen, sondern er ist Abbild des Gesanges des Engel, und die Singenden sind in besonderer Weise angehalten, in diesen Gesang der Engel hinein zu tauchen. 

 

 

Wenn man diesen sehr hohen Anspruch stellt, sollten auch diejenigen, die Musik für diesen Gottesdienst schreiben, keine Komponisten im weltlichen Sinne sein. „Sie sollten“,  so Abt Johannes vom Kloster Buchhagen, „wie Geburtshelfer geistiger Kräfte sein“. Zitat: „ So wie liturgische Poesie aus dem unsagbaren, ewigen Wort schöpft, Ikonenmalerei immer auch aus der Schau der himmlischen Welten lebt, so lauscht der kirchliche Hymnograph dem Klang der himmlischen Sphären und dem Gesang der Engel. Ein Hymnos wäre dann umso vollkommener, je mehr er Widerhall des ewigen Gesanges der Engel ist. Insofern ist der orthodoxe Gesang nach den Gesetzen der geistigen Erkenntnis auch Ikone.“

Die transzendente Dimension der Musik war schon bei den Pythagoräern und Platonikern bekannt. Und auch bei den frühen Kirchenvätern war die Beschäftigung mit der Musik selbstverständlich; Ambrosius von Mailand, Ephraim der Syrer, Johannes von Damaskus und andere waren immer auch Dichter und Sänger.

Interessant ist, dass in frühchristlichen Wandmalereien Christus immer wieder auch als Orpheus dargestellt wurde. Das heißt, durch die Kraft des Gesanges wurde Totes zum Leben erweckt, so wie Christus die Menschen vom Tod zum Leben ruft.

Dies alles stellt auch einen sehr hohen Anspruch an die Singenden, denn auch sie sind dann Teil dieses großen Zusammenhanges in der Verbindung von Himmel und Erde.

Auch wenn dies alles als geistiger Überbau des Verständnisses von Kirchengesang über die Jahrhunderte nicht immer durchgehalten wurde und wird, ist doch in jedem orthodoxen Gottesdienst zumindest ein Zipfel von diesem sehr umfassenden Hintergrund spürbar.

Übrigens, als sich im 10. Jahrhundert die Gesandten der russischen Herrscher in der damals bekannten Welt umsahen, um eine neue Religion für Russland zu suchen, hatte die überwältigende Schönheit der Gottesdienste in Konstantinopel mit all ihren Gesängen und Riten eine so starke Wirkung auf die Boten, dass sie zu hause erzählten, sie hätten den Himmel berührt. Daraufhin wurde ganz Russland orthodox getauft und lebte von da an den Glauben, in dem der Himmel spürbar ist.

„Ausgesungenes Geheimnis“, dieses Wort von Irinäus Totzke beschreibt in besonderer Weise die Essenz orthodoxen Kirchegesanges. Wenn in der Osternacht hunderte Male das „Christos voskrjessje“, „Christus ist auferstanden“ gesungen wird, und in unzähligen Bildern die Freude und das Geheimnis dieses neuen Lebens besungen wird, kann man erahnen, dass Auferstehung für die Orthodoxen nicht ein Begriff ist, über den man diskutiert, oder an den man glaubt oder auch nicht, sondern etwas, dass man in sich erleben kann während so eines Gottesdienstes: wir singen uns sozusagen in das Geheimnis hinein…

In meinem Verständnis ist es eine der größten Qualitäten des orthodoxen Gottesdienstes, die verschiedenen Themen des Glaubens im Menschen selbst erfahrbar zu machen.

Dies geschieht im gesamten Vollzug des Gottesdienstes: in den rituellen Handlungen, und Bewegungen, in der Fülle der Texte, im Kontext der Fresken und Ikonen, dem Licht der Kerzen und dem Duft des Weihrauchs, und – nicht zuletzt in der Musik, im Gesang.

Nochmals Abt Johannes vom Kloster Buchhagen: „Gerade die Musik als vorsprachliches und übersprachliches Medium lässt sich in besonderer Weise mit der Essenz der Texte im Gottesdienst verbinden. Die Texte erhalten ihre sinnliche Gestalt und gleichzeitig ihre Erhöhung. Es gibt ein die irdische Sprache sprengendes und überscheitendes Moment.“

Und so ist es sehr besonders, dass gerade die Kirche mit den wohl längsten Gottesdiensten

(bei den Orthodoxen geht ja nichts unter zwei Stunden, und Ostern wird die ganze Nacht gesungen…), die Kirche mit den ausführlichsten Texten und den strengsten Regeln zu dem, was alles rezitiert und gesungen werden muss, dass diese Kirche den Gesang in so intensiver Weise nutzt, in dem Wissen, dass das Unsagbare erst in dem Raum zu finden ist, der hinter den Worten ist, ein Raum, zu dem insbesondere der Gesang hinführen kann.

Ein Raum, in dem es möglich ist, so etwas wie die eigene „Rüstung“, die inneren Schutzmauern fallen zu lassen, und von der bedingungslosen Liebe Gottes wirklich angerührt zu werden.

 

Zum Schluss einige Worte zur Musik selbst:

Der russische Kirchegesang war früher einstimmig und wurde in Neumen, einer Art Zeichensprache, notiert. Diese Zeichen für den „Snameni rospev“ (Zeichengesang) sind aber eher wie Gedächtnisstützen zu verstehen, da die Gesänge eigentlich mündlich gelehrt und weitergegeben wurden.

Russland war schon damals ein großes Land, und man kann sich vorstellen, was für eine Fülle an unterschiedlichen Gesängen, je nach Gegend und Können und Interesse der jeweiligen Singmeister, unter diesen Umständen entstanden sind.

Zu dieser Zeit wurden die Gesänge auch nicht von Komponisten signiert, sonder nur verschiedenen Traditionen von Gegenden, Orten und Klöstern zugeschrieben.

Unser heutiges Notensystem, das Fünf-Linien-System, wurde in Russland erst im 17. Jahrhundert eingeführt und veränderte die Gesangskunst erheblich. Der große Schatz jener so individuell ausgeprägten Gesänge konnte durch die „normale“ Notenschrift gar nicht erfasst werden und wurde entsprechend reduziert und vereinfacht.

Außerdem löste die sich auch in dieser Zeit ausbreitende Mehrstimmigkeit die alten einstimmigen Gesänge mehr und mehr ab.

Zwar sang man in den Klöstern auch weiterhin nach einstimmig notierten Noten, fing aber auch dort bald an, eine zweite und dritte oder vierte Stimme dazu zu singen.

Weitere Veränderungen erfolgten durch das große Interesse der russischen Zaren im 18. und 19. Jahrhundert an italienischen und später auch deutschen Komponisten, die an den Zarenhof geholt wurden. Durch sie geriet die russische Kirchenmusik sehr unter den Einfluss des italienischen, bzw. später dann eben deutschen Kompositionsstil. Dies führte zu einer nicht unerheblichen Entfremdung des russischen Kirchengesanges und auch zu Tendenzen, in denen orthodoxe Gottesdienste eher Opernaufführungen glichen, denn dem Gesang der Engel…

Im 20. Jahrhundert erfolgte eine Art Rückbesinnung auf die alten russischen Kirchengesänge und der Versuch, sie auch in einem entsprechenden Stil zu harmonisieren.

In den meisten Pfarrkirchen in Russland wie auch im Westen blieb allerdings die Vorliebe für die Gesänge der italienischen und deutschen Epoche bestehen, so dass viele bis heute die Vorstellung haben, russische Kirchenmusik sei nur romantisch und sentimental.

Hier in unserer Gemeinde gab es immer eine „Mixtur“ aus verschieden Stilen, je nach Vorliebe der jeweiligen Dirigenten.

Bei kleineren Gottesdiensten wird oft ohne Noten, nur nach dem System der acht Kirchentöne gesungen. Kirchentöne sind so etwas wie Mustermelodien, auf die man unterschiedliche Texte singen kann.

An den Wochenenden und zu den Festen werden Gesänge aus allen Epochen gesungen. Die Noten sind übrigens fast alle noch handgeschrieben, zum großen Teil aus dem Gedächtnis aufgeschrieben von Dirigenten, die es nach dem letzten Krieg nach Hamburg verschlagen hatte, oder die Noten wurden nach dem Hören von CDs aufgeschrieben. In den letzten Jahren brachten auch immer mal wieder russische Chorleiter Noten mit. Um die Noten für den Kammerchor der russischen orthodoxen Kirche des Hl. Prokop, der zum größten Teil aus nicht russisch sprechenden Sängern und Sängerinnen besteht, singbar zu machen, wurden alle Noten in Lautschrift neu geschrieben. Dies, wie auch alle Transkriptionen für die deutschsprachigen Gottesdienste, wird seit Jahrzehnten von Elisabeth S. Gerassimez handschriftlich ausgeführt, eine außerordentliche Lebensaufgabe.

Ich als Dirigentin dieses Kammerchores fühle mich der alten spirituellen Intention „Kirchengesang als Musik der Engel“ sehr verpflichtet und versuche in der Auswahl der Stücke, die wir singen, dieser Ausrichtung zu folgen.

Ich möchte Sie nun einladen, sich mitnehmen zu lassen in den Raum des Unsagbaren, dahin, wo Musik unser Herz berührt und öffnet für die Wirklichkeit Gottes, die erst hinter unseren Worten und Vorstellungen ihre ganze Fülle offenbart.

 

 

Irina Gerassimez leitet den „Kammerchor der russisch-orthodoxen Kirche“ in Hamburg

 

www.kammerchor-russisch-orthodoxe-kirche-hamburg.de